Gesamtschule Recklinghausen-Suderwich

 

Einmal Geodreiecke aus Maisstärke bitte

Erinnern Sie sich mal daran zurück, wo Sie zuletzt eingekauft haben? Fußbälle? -Am besten die von Adidas oder Nike! Haben Sie daran gedacht, zu welchen Bedingungen diese in Akkordarbeit produziert werden?

Beim Besuch bei H&M und Primark freut man sich über die Tüten an Kleidung, die man für wenig Geld erhält. Wer denkt da schon an die Kinderarbeit, mit der beide Firmen in Verbindung gebracht werden. Diese Gedankenlosigkeit setzt sich in jedem Bereich fort, in dem wir uns wie eine Shoppingqueen fühlen wollen. Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Recklinghausen Suderwich reichte es nicht, mal in der siebten oder neunten Klasse über das Thema Fairer Handel zu sprechen.

Wir lernen in den Unterrichtsstunden viel darüber, wie unsere Shoppingtour sich auf Menschen in Myanmar auswirkt. Aber wenn wir ehrlich zu uns sind – sobald die Schulglocke ertönt, zählt nur die Marke oder der Preis“, erklärt Monique Kratzke, Gründerin der Schülerfirma FairerLaden.

30 Schülerinnen und Schüler aus den unterschiedlichsten Jahrgängen (6.-12. Jahrgang) machten sich 2018 auf den Weg, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Sie vertreiben alles, was das Schülerherz begehrt oder vergisst. Das Geodreieck verschwunden? Keinen Schreibblock dabei? Die Tintenpatrone schon wieder leer? Kein Grund zur Panik. Denn im FairenLaden, kurz FLaden, der Schule finden die Schülerinnen und Schüler genau diese Produkte, mittlerweile im eigenen Ladenlokal. Dabei standen Nachhaltigkeit und Fairness ganz oben im Wertekanon der Schülerinnen und Schüler. Das Geodreieck wird aus Maisstärke produziert, Kugelschreiber aus Altpapier und für den süßen Zahn finden die Kunden „Die gute Schokolade“ von der Plant for the Planet Initiative.

Begonnen hat das Projekt mit einer Initiative der beiden Lehrkräfte Matthias Flüß und Anna Stillitano. Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern entwickelten sie über ein halbes Jahr, das heutige Konzept des Fladens. Dabei forschten Jungunternehmer auf dem eigenen Schulgelände, befragten 600 Schülerinnen und Schüler nach ihren Wünschen und Kaufverhalten. Monique und Lilien, als damalige Firmenleitung, handelten beim Förderverein eine Anschubfinanzierung aus, mit der sie ihr Produktsortiment auf- und ausbauen konnten. Die Produkte wurde jedoch nicht einfach beim nächsten Markt um die Ecke eingekauft. Schülerinnen und Schüler forschten analog bei Händlern in Recklinghausen und stellten Anfragen online. Immer im Hinterkopf - die Kaufentscheidung sollte von der Frage abhängen, wie dieses Produkt produziert wird. Es entstand ein überschaubares Produktportfolio, bei dem zu jedem Objekt die Herstellungsart beschrieben werden konnte.

Wussten Sie, dass für einen neuen Collegeblock mit strahlend weißem Papier, ca. 900 Liter Wasser verbraucht werden. Aus diesen Überlegungen entstand eine weitere Ordnung der eigenen Produkte – nämlich nach dem Verbrauch von Wasser in deren Herstellung. Durch Recyclingpapier können so ohne weiteres 80 % des Wasseraufwandes eingespart werden.

Faire Bildung, Eigeninitiative und Lernen in der Lebenswelt waren den beiden Lehrkräften nicht genug. „Wir wollten keine Unternehmen gründen, bei dem die Schülerinnen und Schüler in die Rolle von unseren Mit- oder gar Zuarbeitern rutschen. Unser Lernziel konnte nicht von Selbstwirksamkeit und Lernen durch Handeln sprechen, wenn wir unserem Team am Ende die Entscheidungskompetenz rauben“, erklärt Matthias Flüß.

Es war ein Experiment, allen Schülerinnen und Schüler diese Kompetenz zu übertragen. Die Schülerinnen und Schüler übertrafen auch hier aller Erfahrungen. Gemeinsam einigten sie sich zwar auf eine Firmenhierarchie mit Bereichsleitern und einer Gesamtleiterin. Jedoch geben diese nur die Entwicklungsschwerpunkte vor und trugen besondere Verantwortungen in ihrem Bereich. Entscheidungen zu Neueinführung, dem eigenen Lohn, Arbeitszeiten oder Regeln zur Kündigung können nur von der Mehrheit des gesamten Teams entschieden werden. Kritisch könnte man hier nachfragen, wozu es dann Lehrer/innen braucht. Nicht abwegig – jedoch geht diese Rolle einher mit dem Grundgedanken in diesem Projekt. Die Schülerinnen und Schüler, gerade die jungen Lernenden in Führungspositionen treffen auf eine Verantwortung und Selbstständigkeit, die sie zuvor nie erlebt haben. Damit ändern die beiden Lehrer ihre Dienstbezeichnung zu Unternehmensberatern.

Sie coachen die Schülerinnen und Schüler. Eine Konferenz mit 30 Teammitgliedern zu leiten, ist bspw. eine riesige Herausforderung. In Einzelgesprächen gab man Tipps und Hinweise. Den Verkauf zu organisieren, neue Produkte einzuführen, Werbung zu gestalten, etc. pp.. Zu vielen Themen fanden weitere Gruppen- und Einzelgespräche statt, Denkanstöße wurde in den Raum geworfen, aber am Ende erhielten sie immer die Möglichkeit, auch Fehlentscheidungen zu treffen.

Von nun an baute in jeder Mittagsfreizeit das Team in der Pausenhalle ihre Tische auf. Anfangs noch ganz klein. Es wirkte wie ein Flohmarktstand. Doch das Projekt nahm schneller Fahrt auf als gedacht. Das Zweijahresziel war schon nach 6 Monaten erreicht. Die WDR Lokalzeit fragte an, um das Team an einem Arbeitstag zu begleiten. Mit dem Wachsen des Unternehmens wurden Fragen der Buchhaltung und der Personalorganisation immer wichtiger. Gemeinsam fragte man beim örtlichen Steuerbüro an und bat um einen Workshop zu diesem Thema.

„Meine Eltern staunten nicht schlecht. Jede Woche erklärte ich ihnen, dass ich etwas länger in der Schule blieb. Das Lager musste aufgeräumt werden und die Kasse geprüft werden. Freitags, wenn die Schule schon leer war, trafen wir uns immer zur Firmensitzung im Computerraum. Das waren ziemlich hitzige Diskussionen. Einmal ging es darum, weshalb das „Fairtrade COCOA“ Siegel nicht ausreicht, auch wenn wir mit der Schokolade den meisten Gewinn gemacht haben“, erklärt Calvin rückblickend zu seiner Zeit im Fladen.

Der FaireLaden hat es, wie es dieser Schüler beeindruckend nachhält, geschafft, die Grenzen zwischen Unterricht und Lebenswelt zu sprengen. Das Engagement in der Schülerfirma begründet sich durch die hohe Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit, die die Schülerinnen erleben. Der Idealismus formt den Wertekanon ihrer Firma und prägt damit auch den Wert ihrer Arbeit. Sie studieren Produktsiegel und ihre Versprechen, nicht um ihrer selbst willen – sondern um zu prüfen, inwieweit sie zum Leitbild des – nein – ihres Ladens passen. Dabei verändern sie nicht nur ihr eigenes Weltbild, sondern rutschen in jedem Verkaufsgespräch in die Rolle eines Botschafters für faire Produktion und fairen Handeln.

Gilt die Faire Botschaft nur für die Schule?

Anfangs war genau das der Auftrag, den sich die junge Truppe gestellt hat. Mit dem eigenen Erfolg wuchs jedoch das Interesse der Welt, die außerhalb der Schule existiert. Die benachbarte Grundschule wünschte sich eine Präsentation und wurde zum Stammkunden der Schülerfirma. Auf dem Fest der Kulturen (80 000 Besucher/innen) durfte sich der Fladen Menschen für ihr Thema begeistern und auch auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt sprach man mit den Besuchern zwischen Würstchenbuden und Kleinkunstläden über Wasserverbrauch und nachhaltigen Konsum.

„Die Coronaphase hat uns sehr ausgebremst“, erklärt Matthias Flüß. „Aber mit dem Team an Schülerinnen und Schüler in diesem Projekt freuen wir uns riesig auf die Neueröffnung.“